Alles was mich bewegt

Gedichte die das Leben Schrieb von mir und Freunden. Alles was mich bewegte, schrieb ich einmal nieder

Thursday, November 16, 2006

Etwas zum Nachdenken

Etwas zum Nachdenken

Es war eine kleine Frau, die den staubigen Feldweg entlang kam. Sie war wohl
schon recht alt, doch ihr Gang war leicht, und ihr Lächeln hatte den
frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens.
Bei einer zusammengekauerten Gestalt blieb sie stehen und sah hinunter. Sie
konnte nicht viel erkennen. Das Wesen, das da im Staub des Weges saß, schien
fast körperlos. Es erinnerte an eine graue Flanelldecke mit menschlichen
Konturen. Die kleine Frau bückte sich ein wenig und fragte: "Wer bist du?".
Zwei fast leblose Augen blickten müde auf. "Ich? Ich bin die Traurigkeit",
flüsterte die Stimme stockend und so leise, daß sie kaum zu hören war.
"Ach die Traurigkeit!" rief die kleine Frau erfreut aus, als würde sie eine
alte Bekannte begrüßen.
"Du kennst mich?" fragte die Traurigkeit mißtrauisch.
"Natürlich kenne ich dich! Immer wieder einmal hast du mich ein Stück des
Weges begleitet."
"Ja, aber...", argwöhnte die Traurigkeit, "warum flüchtest du dann nicht vor
mir? Hast Du keine Angst?"
"Warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch selbst nur
zu gut, das du jeden Flüchtigen einholst. Aber, was ich dich fragen will:
Warum siehst du so mutlos aus?"
"Ich ... ich bin traurig", antwortete die graue Gestalt mit brüchiger
Stimme.
Die kleine Frau setzte sich zu ihr. "Traurig bist du also", sagte sie und
nickte verständnisvoll mit dem Kopf. "Erzähl mir doch, was dich so
bedrückt."
Die Traurigkeit seufzte tief. Sollte ihr diesmal wirklich jemand zuhören
wollen? Wie oft hatte sie sich das schon gewünscht. "Ach, weißt du", begann
sie zögernd und äußerst verwundert, "es ist so, daß mich einfach niemand
mag. Es ist nun mal meine Bestimmung, unter die Menschen zu gehen und für
eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme,
schrecken sie zurück. Sie fürchten sich vor mir und meiden mich wie die
Pest." Die Traurigkeit schluckte schwer. "Sie haben Sätze erfunden, mit
denen sie mich bannen wollen. Sie sagen: Papperlapapp, das Leben ist heiter.
Und ihr falsches Lachen führt zu Magenkrämpfen und Atemnot. Sie sagen:
Gelobt sei, was hart macht. Und dann bekommen sie Herzschmerzen. Sie sagen:
Man muß sich nur zusammenreißen. Und sie spüren das Reißen in den Schultern
und im Rücken. Sie sagen: Nur Schwächlinge weinen. Und die aufgestauten
Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder aber sie betäuben sich mit Alkohol und
Drogen, damit sie mich nicht fühlen müssen."
"Oh ja", bestätigte die alte Frau, "solche Menschen sind mir schon oft
begegnet."
Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen. "Und dabei will
ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei ihnen bin, können
sie sich selbst begegnen. Ich helfe ihnen, ein Nest zu bauen, um ihre Wunden
zu pflegen. Wer traurig ist, hat eine besonders dünne Haut. Manches Leid
bricht wieder auf wie eine schlecht verheilte Wunde, und das tut sehr weh.
Aber nur, wer die Trauer zuläßt und all die ungeweinten Tränen weint, kann
seine Wunden wirklich heilen. Doch die Menschen wollen gar nicht, daß ich
ihnen dabei helfe. Statt dessen schminken sie sich ein grelles Lachen über
ihre Narben. Oder sie legen sich einen dicken Panzer aus Bitterkeit zu." Die
Traurigkeit schwieg. Ihr Weinen war erst schwach, dann stärker und
schließlich ganz verzweifelt.
Die kleine, alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in ihre
Arme. Wie weich und sanft sie sich anfühlt, dachte sie und streichelte
zärtlich das zitternde Bündel. "Weine nur, Traurigkeit", flüsterte sie
liebevoll, "ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln kannst. Du sollst
von nun an nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die
Mutlosigkeit nicht noch mehr an Macht gewinnt."
Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete
erstaunt ihre neue Gefährtin: "Aber ... aber - wer bist eigentlich du?"
"Ich?" sagte die kleine, alte Frau schmunzelnd, und dann lächelte sie wieder
so unbekümmert wie ein kleines Mädchen.

"Ich bin die Hoffnung."


Schön, gell ? von Inge Wuthe

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